Gaby Klaus /
Sachte setzen sich glitzernde Schneekristalle auf das Fensterbrett.
Die Straße ist leer, die Fenster im gegenüberliegenden Haus hell beleuchtet.
Leise rauscht der Wind über die weißen Dächer der Stadt.
Aus der Nachbarwohnung dringt Kinderlachen durch die Wände.
Freudenrufe, Weihnachtslieder von Frieden und Liebe...
Im Raum ist es dunkel.
Gerd starrt ins Leere.
Weihnachtsabend- keine Kerzen, keine Lichter.
Ein Wurstbrot liegt angebissen auf dem Teller vor ihm.
Keinen Appetit, keinen Hunger.
Einsamkeit macht nachdenklich.
Gerds Gedanken gehen zurück ins vergangene Jahr.
Der Stress mit dem Chef, dann die Kündigung ... Arbeitslosigkeit.
Seit 4 Monaten hat er keine sinnvolle Beschäftigung mehr.
In der Ecke stehen Mülltüten, Bierflaschen und Berge ungewaschener Wäsche.
Dass heute Weihnachten ist, spürt er nicht.
Nichts ist anders als an den Abenden vorher.
Das TV Gerät hat er schon heute Nachmittag abgeschaltet.
Zu schwer klangen die „frohen Weihnachtsgrüße“, die das „Fest der Liebe“
begleiten sollen.
In Gerds Welt klingen diese Worte wie Hohn.
„Gott, wenn es dich überhaupt gibt- was soll dieses „Fest der Liebe“?
Es ist niemand im Zimmer und mit Buddy, seinem Hund, kann er auch nicht mehr
reden. Erst vergangene Woche hat er seinen treusten Begleiter zum Tierarzt
bringen und mit dem letzten Geld das Ende des gemeinsamen Weges bezahlen müssen.
Gerds Augen brennen, sind müde.
Auf seine Frage hat er keine Antwort erwartet- woher auch.
Seine Blicke durchsuchen das finstere Zimmer... sinnlos, ziellos, einfach nur
so...
Ein höhnisches Lächeln überkommt ihn, als er unter dem Dachfenster auf die
verschlissenen Krippenfiguren schaut, die ihm sein Bruder letztes Jahr
hingestellt hat.
Dort stehen sie, die kitschigen Könige, die gebeugten Schafhirten, die knienden
Eltern vor dieser Futterkrippe...
Gerd hat sie nicht weggeräumt, nicht über Ostern oder im Sommer, nein, sie sind
ihm einfach nicht aufgefallen.
„Fest der Liebe“, prustet er heraus, „wenn’s nicht so traurig wäre,
würde ich lachen!“
Eine Familie, oh ja, die hätte Gerd sich gewünscht, kleine Kinder, für die es
sich lohnt morgens aufzustehen und Geld nach Hause zu bringen.
„Dieses Jesuskind hatte es gut, denn Eltern, Familie, das hätte ich mir
gewünscht, mein Lieber...“
Sinn, für jemanden leben, jemanden zu lieben... Gerds Gedanken schweifen in
Träumereien.
So vieles ist schief gelaufen in seinem Leben.
Die erste Frau, die er liebte, hat er mit seiner Eifersucht vertrieben, dann nur
noch für seine Arbeit gelebt.
Die Einsamkeit, die ihm nach Feierabend an der Wohnungstür entgegen kam,
erstickte er im Alkohol.
Als er Fehler machte in der Werkstatt und seinen Chef belog, um einer Anzeige
aus dem Weg zu gehen, brauchte Gerd noch mehr Bierflaschen, um sich morgens im
Spiegel ansehen zu können...
„Die Welt ist kalt, hörst du?“ Seine Stimme zittert und seine Finger
tänzeln nervös über die Holzfiguren.
„Was ist denn das für eine Welt, die du geschaffen hast? Hast du, Gott, denn
nicht gesehen, was deine „Menschen“ tun? Sie verletzen mit Worten, Kälte,
Einsamkeit... Deine Menschen, die du geschaffen hast, werfen Babys in den Müll,
führen Kriege, töten sich, als gäbe es nur noch Hass.“
Mit einem einzigen Ruck wirft Gerd die Figuren auf den Boden.
Nur die Futterkrippe und das Jesus- Kind darin bleiben verschont.
„Mein Leben ist ein Mülleimer, nichts wert. Was soll ich da mit einer
Weihnachtsgeschichte von Liebe und Frieden? Du, der große Gott als Mensch in
dieser Welt?“
Irgendwann in seiner Kindheit hat er davon gehört, dass dieses Baby etwas
besonderes war.. damals in Bethlehem...
Doch was?
„Was hast du noch mit dieser Welt, mit meiner Welt, mit meinem Leben zu
tun? Weißt du, wie es hier ist? Kennst du die Einsamkeit und meine Ängste?“
Mit hastigen Bewegungen wischt sich Gerd Tränen an den Pullover.
Es bleibt still.
Gerade als seine Hände aus Gewohnheit nach einer Flasche Bier greifen, weil der
Schmerz der Einsamkeit, Wut und Trauer heraus zu brechen drohen, fällt ein
Lichtstrahl von der Straße durch das Fenster direkt auf die Krippe.
Gerd schiebt die Flasche auf die Seite und sein Zorn verfliegt, als er genauer
hinschaut.
Der Schatten des Fensterkreuzes fällt auf das Jesus Kind in der Krippe.
Gerd hat noch keinen Tropfen Alkohol getrunken, als er den Kreuzschatten über
der Krippe entdeckt und eine Stimme in seinem Herzen sagt:
„Gerd, ich kenne deine Einsamkeit, denn ich war verlassen. Ich kenne deine
Trauer, denn ich kam, um dich zu trösten. Ich kenne deine Schuld, dein kaputtes
Leben, dafür, hörst du, dafür kam ich.“
Gerd blickt sich
verunsichert um. Doch es ist niemand im Zimmer zusehen.
Das Kreuz als Schatten auf der Krippe ?
Noch einmal betrachtet Gerd das seltsame Bild, dieses Zusammenspiel von Licht
und Schatten. Plötzlich überdeckt in Gerd Augen das Schattenkreuz die Idylle des
Babys in der Krippe.
„Das habe ich mit deinem Leben zu tun!“
Lange fließen Tränen aus Gerds Augen, es scheint alles aus ihm heraus zu
quellen, was er bisher runter geschluckt hat.
Erst lange Zeit später setzt sich der gebeugte Mann wieder auf.
„Danke, ich danke dir“ flüstert er mit erleichterter Stimme.
„Das ist wirklich Weihnachten, jetzt kann ich’s sehen!“
Noch einmal blickt er auf die Krippe.
Der Schatten ist längst wieder verschwunden.
Als Gerd das letzte Bier in den Abfluss gießt, durchfährt ihn Wärme.
„Jetzt ist Weihnachten in deinem Herzen, Gerd, nicht nur heute, sondern für
alle Zeit.“